Na klar. Der Tag war ja auch noch nicht beschissen genug. Stotternd bleibt der Motor endgültig stehen. Ich trete die Kupplung und lasse mich an den Straßenrand rollen. Ein Fausthieb auf das Armaturenbrett befördert die Tanknadel in die Realität zurück. Null. Also doch keine einmalige Fehlfunktion. Das Ding ist tatsächlich hinüber.
Fluchend grabe ich den leicht angerosteten und verbeulten Ersatzkanister aus meinem Kofferraum. Das 10-Liter Blechding hatte mir erst letzte Woche ein Tankwart geschenkt, als ich das erste mal liegengeblieben war. Ich schalte den Warnblinker an und gehe los.
Mal sehen wie der Benzinwirt reagiert, wenn ich gleich wieder vor ihm stehe.
Nur die Fußgängerbrücke über die Autobahn und weitere 200 Meter trennen uns. Wenn er lacht, muss er seinen Kanister eben essen. Meine Laune ist übel, bessert sich aber mit jedem Schritt. Es ist warm und die Nachmittagssonne scheint durch das Herbstlaub, als ich die Brücke betrete. Trotz der viel befahrenen Bahn duftet es nach Wald.
Das mit dem Kanister essen nehme ich zurück. Ich werde mit ihm lachen. Immerhin bin ich an derselben Stelle und mit seinem Kanister im Auto das zweite mal liegengeblieben. So hat er im Winter wenigstens was zu erzählen.
Jemand steht am Geländer. Etwas stimmt mit seiner Haltung nicht. Und dem Rest. Sein Anzug entpuppt sich beim näheren Hinsehen als speckig; sein Gesicht ist gerötet und seine Hände zittern leicht. Er ist ziemlich mager und verströmt einen leichten Geruch nach Krankenhaus. Er wirkt irre, aber nicht dumm.
„Hat der keine Angst?“, frage ich den Typen, als die unglaublich laute Hupe des Vierzigtonners verstummt.
„Angst. Was eigentlich bedeutet Angst? Ist es nicht so, dass die Angst ein fester Teil unseres Lebens ist? Sie praktisch gleichberechtigt neben der Freude existiert?“
Die Kraft seiner Stimme überrascht mich. Nebeneinander stehen wir auf der Autobahnbrücke und sehen auf den Dackel, den er an einer langen Leine etwa zwei Meter über der rechten Spur baumeln lässt.
„Sein Leben da unten dürfte im Moment ausschließlich aus Angst bestehen. Da kommt der nächste Lastwagen!“
Wieder hupt es. Lang und irgendwie verzweifelt. Der LKW versucht noch eine heftige Bremsung. Der Typ dreht mir sein Gesicht zu und holt mit drei schnellen Bewegungen den Hund zwei Meter höher. Etwa 10 Zentimeter unter seinen Pfoten rauscht der 40-Tonner vorbei. Der Dackel fiept und wird durch den Fahrtwind unter die Brücke gerissen. Kurz drauf pendelt er wieder zurück. Er hebt seinen Kopf und sieht uns an.
„Natürlich empfindet er Angst. Aber welcher Art? Er fürchtet den Verlust seines Lebens. Bevor wir hier hingingen, hat er mir das Gesicht geleckt. Jetzt hat er Angst vor einem Vertrauensbruch. Er hat Angst davor, dass ich ihn nicht rechtzeitig hochziehe. Was er nicht weiß, ist, dass ich Angst habe ihn zu verlieren.“
„Äh, haben Sie es mal mit Streicheln versucht?“
„Nun, ich liebe ihn und habe deshalb Angst ihn zu verlieren. Das Yin und Yang – es ist die Ambivalenz in jeder Beziehung. Wie war das bei Ihnen, als Sie das letzte mal richtig verliebt waren? Sie waren glücklich, unbekümmert und euphorisch. Das Leben hatte mehr Farben, mehr Gerüche …“
Während er seinen Monolog hält, lässt er den Dackel bis auf die Fahrbahn herunter. Fünf Meter unter uns sieht sich der Hund unsicher um und beginnt am Asphalt zu schnüffeln. Der nächste LKW ist etwa einen halben Kilometer entfernt.
„… und Sie schwebten auf Wolken. Und doch nagte an Ihnen das Gefühl, dass Sie alles wieder verlieren könnten.“
Vierhundert Meter. Ein Auto rast heran. Der Dackel läuft auf die Überholspur und hebt sein Bein am Randstreifen. Bevor ich etwas sagen kann, knallt ein BMW mit etwa 200 km/h einen Zentimeter unter der durchhängenden Leine her. Der Hund schüttelt sich und leckt sich am Hintern. Ich klappe meinen Mund wieder zu.
„Als Sie Ihnen das erste mal gesagt hat, dass sie Sie liebt, haben Sie gedacht, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn Sie sie nicht kennengelernt hätten. Ist es nicht so? Sie waren nicht nur einmal verliebt, dass sehe ich Ihnen an. Sogar am Anfang einer neuen Beziehung haben Sie an das Ende der alten gedacht, obwohl Sie genau das für immer vergessen wollten. Lord Byron hat in seinem …“
„Ich wette, dass Ihr Hund gerade über sowas nachdenkt. Könnten Sie ihn jetzt bitte wieder hochziehen?“
Der Dackel war mittlerweile unter der Leitplanke durch auf den Mittelstreifen gelaufen. Mit ein paar langen Zügen an der Leine befördert der Mann seinen Liebling zurück auf seinen Platz unter uns. Jaulend senkt der Hund seinen Kopf und setzt sich. Er schnüffelt nicht mehr, sondern sieht dem LKW entgegen. Noch dreihundert Meter. Direkt dahinter fährt der nächste.
„Wissen Sie was? Es stimmt – ich kenne dieses Gefühl. Und jetzt holen Sie den Köter rauf! Bitte!“
„Hah! Im Unterschied zu dem, was Sie erlebt haben, liegt es an mir die Fäden seines Schicksals zu ziehen! Ich kontrolliere seine Situation in einem Akt der bewussten Handlung. Ist es nicht das, was sie sich immer gewünscht haben? Gab es nicht Momente in Ihrem Leben, in denen Sie an einen Gott glauben wollten? An jemanden, der, so irrational ihre Ansprüche an die jeweilige Situation auch waren, diese klärt und Ihnen auch noch sagt wie es weitergeht?“
Seine Augen funkeln. Auf seiner Stirn perlt der Schweiß. Der Lastwagenfahrer sucht irgendetwas auf dem Beifahrersitz. Noch zweihundert Meter. Der Hund rührt sich nicht. Der Typ ist völlig durchgeknallt. Ich muss etwas tun – nicht, dass ich Dackel wirklich mag, aber ihn auf diese Weise sterben lassen geht auch nicht. Meine Hände werden feucht und etwas zieht in meinen Eingeweiden.
Weglaufen oder handeln.
„Mann, zieh den Hund rauf, du Arsch!“ Mir fällt wieder ein, warum ich auf dieser beschissenen Brücke stehe. Der Ersatzkanister und mein leerer Tank. Der Kanister.
Verbeult ist er schon.
„Religion! Das ist wahre Religion! Ob er an mich glaubt oder nicht, ich entscheide über sein Leben oder seinen Tod! ICH BIN SEIN GOTT!“
„Weißt du was, du bist völlig krank!“
Ich hole aus und ziehe ihm den Kanister über den Schädel. Es dröhnt hohl. Wie ein nasser Sack rutscht er am Brückengeländer entlang zu Boden. Meine Schulter knackt und schmerzt plötzlich wie die Hölle. Kleine Sternchen ziehen durch mein Gesichtsfeld, als ich wieder auf die Fahrbahn sehe. Der Kanister hat eine weitere dicke Beule. Ich lasse ihn achtlos fallen.
Noch hundert Meter. Der Lastwagenfahrer sucht noch immer. Der Kopf des Mannes schlägt mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Die Leine fällt aus seiner Hand und rutscht unter dem Geländer durch nach unten. Mit dem Fuß trete ich in letzter Sekunde auf das Ende.
Der Hund war in der Zwischenzeit ein ganzes Stück nach vorn gelaufen. Wie ein Irrer hole ich die Leine ein. Der Dackel schleift über den Boden und jault erbärmlich, aber er gewinnt keine Höhe. Schneller kann ich nicht. Ich will, aber es geht einfach nicht.
„Ich tu, was ich kann – wir schaffen das!“, brülle ich nach unten. Der Hund sieht mich an. Es sieht so aus, als würde er es glauben. Dackelblick. Schlagartig wird mir klar, was dieser Ausdruck bedeutet.
Noch zwanzig Meter. Der Fahrer sieht nach vorn. Für eine Bremsung ist es längst zu spät. Endlich lösen sich die Pfoten vom Boden. Noch zehn Meter. Was wiegt ein Dackel? Es kommt mir vor wie fünfzig Kilo. Die Muskeln in meinen Armen brennen. „Ein, zwei Meter noch! Ich krieg dich nach ob …“
Es knallt laut und dumpf, als der Hund gegen den Spoiler vor dem Auflieger prallt. Ich stöhne vor Schmerzen, als mir der Schlag beinahe die Arme ausreißt. Im hohen Bogen fliegt der Dackel über den ersten Lastwagen und landet in der Windschutzscheibe des nächsten. Bremsen kreischen und die schweren Reifen stottern quietschend über den Asphalt. Was hinter der Brücke passiert, kann ich nicht sehen.
Mir ist schlecht.
Das Ende der Leine baumelt im Fahrtwind. Das Geschirr, in dem der Dackel hing, ist leer. Die Metallteile schimmern rot. Dackelblut. Was hatte ich getan? Langsam ziehe ich den Rest der Leine ein und lasse sie angewidert fallen. Kleine rote Tropfen verteilen sich auf und neben dem Knäuel. Schnaufend lege ich meinen Kopf auf das Geländer und denke über das nach, was gerade passiert ist. Meine Knie fühlen sich weich an.
„Ey, du Arsch da oben! Bist du völlig bescheuert oder was!? Meine Kabine – total versaut, alles voller Blut und Hundefetzen! Was bist du für ein kranker Wichser, Mann?! Ich hab die Bullen angerufen, die kriegen dich!“
Auch das noch. Der Fahrer des letzten LKWs. Sein Gesicht ist rot. Sein Hemd auch. Der Kerl sieht aus wie aus einem Horrorfilm und seine Stimme überbrüllt locker den Lärm der vorbeifahrenden Autos. Ich bin froh, dass er da unten ist und ich hier oben. Wie lange würden die Bullen brauchen? Viertel Stunde? Was mache ich hier eigentlich noch?
„Was … was ist passiert? Wo ist der Hund?“
Der Irre kommt wieder zu sich. Wie in einem Liegestütz richtet er sich langsam auf. Noch auf seinen Knien, langt er mit einem Arm zu einem großen Rucksack, der mir bis jetzt gar nicht aufgefallen war. Erst dann stellt er sich, gestützt auf das Brückengeländer, vollends auf seine Füße. Er schwankt und befühlt die sichtbare Beule an seinem Kopf.
„Dein Hund ist tot, Mann. Es war zu spät, ihn wieder raufzuziehen.“
„Zu spät? Was heißt hier zu spät? Sie haben mich bewusstlos geschlagen. Ich hätte ihn nicht sterben lassen!“ Mühsam ringt er mit seinem Gleichgewicht und brüllt mich an. „Als ich euch nach meinem Ebenbild schuf, hätte ich wissen müssen was ich tat, verdammt nochmal. Erst nagelt ihr mir meinen Sohn an´s Kreuz und jetzt pfuscht ihr mir schon wieder in´s …“
„Tach Herr Doktor Marnke. Na wieder Ärger mit Ihren Schäfchen? Was ist es denn heute?“
Ich hatte die Oma gar nicht kommen sehen. Urplötzlich steht sie neben mir und lächelt mich und den Irren freundlich an. Ein winziger Pinscher wuselt um ihre Beine. Ich sehe auf die Uhr und frage mich, wann und ob die Polizei auftaucht.
„Frau Kampe! Ich, ähh, Ärger? Der Ketzer da hat gerade meinen Hund ermordet!“
„Der da?“ Sie zeigt mit dem Finger auf mich und lacht. „Genau wie beim letzten mal, stimmts? Immer sinds die anderen, gell?“ Ihr verschmitztes Grinsen beruhigt die Situation für ein paar Sekunden.
„Was heißt hier wie beim letzten mal, macht der das öfter?“, frage ich die alte Dame. Ihr Pinscher bleibt plötzlich wie angewurzelt vor dem Rucksack stehen. Dann bellt er ihn an.
Der Sack bewegt sich und bellt zurück. Ich habe das Gefühl, dass sich mein Verstand auflöst.
„Seit er seine Approbation verloren hat, ist er ein wenig seltsam, wissen Sie. Er war Kinderarzt …“
Sie tritt an meine Seite, ich beuge mich auf ihre Kopfhöhe und so flüstert sie mir, so gut sie kann in mein Ohr.
Der Typ starrt auf die blutige Leine und spricht leise mit sich selbst.
“ … er hat eine Behandlungsmethode gegen Schuppenflechte erfunden. Leider sind daran sechs oder sieben Kinder gestorben. Seither sucht er zu vergessen. Über den Schmerz und die Verantwortung ist er, na ja, verrückt geworden. Im Moment hält er sich für Gott …“
„Für welchen?“, frage ich sie sarkastisch und massiere meine schmerzende Schulter. Der Kinderarzt zieht ein Taschentuch aus seiner Hose und beginnt die Leine zu säubern.
„Was heißt für welchen? Es gibt doch nur einen Gott!“ Die Oma legt den Kopf etwas schief sieht mich irritiert an. Mit sauberer Leine geht der Irre zu seinem Rucksack, holt den zweiten Hund raus und beginnt ihm sie anzulegen. Noch ein Dackel. Was sonst.
Ich sehe wieder auf die Uhr und beginne jetzt ernsthaft an meinem Verstand zu zweifeln.
Der macht es tatsächlich nochmal.
„So, es gibt also nur einen Gott. Dann erklären sie das mal zum Beispiel einem Moslem, gute Frau.“ Statt einer Antwort dreht sie ihren Kopf in Richtung Brückenaufgang. Vor den rot-weißen Sperrpfosten hält ein Polizeiwagen an. Endlich. Aber anstatt auszusteigen, hantieren die Grünen wild gestikulierend mit einem Funkgerät.
„Ich bin Gott!“, brüllt der Arzt und beginnt den nächsten Hund über das Geländer abzuseilen.
„Warten sie, Herr Doktor Marnke! Welcher Gott sind sie denn nu eigentlich?“ Omas Lautstärke und Autorität passen nicht zu ihrer zierlichen Gestalt. Sie war garantiert früher Lehrerin. Deutsch oder Geschichte oder irgendein anderes langweiliges Fach, in dem es galt, gelangweilte Schüler zwischendurch mal wach zu brüllen.
Die Bullen sitzen immer noch in ihrem Auto. Daneben steht der blutverschmierte Lastwagenfahrer und brüllt auf die beiden ein.
„Welcher Gott!? Ich bin der Gott!“, brüllt der Typ zurück. „Ja, aber der junge Mann hat mich gerade dran erinnert, dass die Moslems einen anderen Gott haben. Und Buddhisten haben wieder andere Götter. Für welchen Gott also soll dieser Hund sterben?“ Oma dreht richtig auf. Trotz der bescheuerten Situation muss ich lachen.
Und habe gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Immerhin war der letzte Köter bei meinem Rettungsversuch gestorben. Die Oma stemmt die Hände in die Hüften. „Wenn Sie auch nur irgendein Gott wären, bräuchten Sie nicht zwei Hunde um es zu beweisen!“
„Stimmt doch, oder?“ Mit noch breiterem Grinsen im Gesicht sieht sie mich an. Endlich kommen die beiden Bullen aus ihrem Auto. Etwas unsicher gehen sie auf uns zu. Knapp dreißig Meter trennen uns.
„Äh, ja natürlich. Sie haben recht.“ Mit jedem Schritt den die Polizisten näher kommen, wird mir bewusster, dass ich nicht mehr abhauen kann. Was soll´s. Zu Hause würde ich jetzt ´ne Maschine Buntes füllen müssen. Und wischen. Vor allem die Küche.
„Hey, Kinderarzt, Götter sind unfehlbar, oder?!“, brülle ich ihn an. „Warum ist dein erster Hund draufgegangen?“
„Was für eine Frage! Du hast mich niedergeschlagen, nur deshalb, Sterblicher! Ja, ich habe ihn geprüft, aber trotz allem würde er noch leben, wenn mein Geschick ihn weiter gelenkt hätte!“
Alles an dem Kerl ist durcheinander, seine Frisur, sein Gesicht und seine Stimme. Die Polizisten sind noch immer zwanzig Meter entfernt. Oma zupft an meinem Ärmel und deutet mit dem Kopf jetzt in Richtung des Arztes. Er zieht den Hund tatsächlich wieder ein Stück nach oben.
„Du willst also Gott sein und lässt dich von einem Sterblichen zusammenschlagen!? Mann, wenn das rauskommt, wirft das ein verdammt übles Licht auf deine ganze Zunft, du Luftpumpe! Du bist so dermaßen fehlbar, dass du direkt mit zwei Kötern hier …“
„Darf ich bitte erfahren, was hier vor sich geht?“. Einer der Beamten greift meine Schulter und unterbricht mich inmitten meiner Predigt. „Fragen Sie das Gott da drüben, ich hab nur versucht zu helfen!“
„Das ist Herr Doktor Marnke, Herr Wachtmeister. Er ist ein wenig seltsam …“, sagt die alte Dame.
„SELTSAM? DER!?“, brüllt der Lastwagenfahrer und geht auf mich los. „Der Arsch da hat seinen Hund in meine Scheibe geworfen!“ Die beiden Polizisten haben Mühe, ihn zurückzuhalten. Der ältere Polizist herrscht ihn an, seine Schnauze zu halten. Die beiden Grünen ahnen, dass es kein Routineeinsatz wird. Langsam frage ich mich, wie ich aus dieser Nummer heil wieder rauskomme.
Der zweite Dackel des Irren baumelt noch immer zwei Meter unterhalb der Brücke. Ich sehe wie sich seine Hand unter der über dem Handgelenk gekreuzten Leine langsam blau färbt. Er sieht einfach durch uns durch und brüllt in einer Tour. Der Pinscher hat seinen Kopf durch´s Geländer gesteckt und bellt wie verrückt nach unten.
„Ich habe Pol Pot geschaffen, Hitler und die Hunnen. Stalin, Pinochet und Papst Urban II. Und was habt ihr getan? Habt ihr danach nicht noch immer an mich geglaubt? Nicht mal in Zeiten der Pest und der großen Kriege habt ihr von mir abgelassen! Ich war und bin der Trost, ich war und bin das ewige Heil! Und wag es nicht, du Wurm, mir Fehlbarkeit vorzuwerfen, denn ich bin darüber erhaben!“
Seine Stimme klingt auf einmal klar und herrisch. Sein Blick ist durchdringend und wach. Er fixiert jeden einzelnen von uns. Mich zuletzt. Keiner sagt was. Nicht einmal der Pinscher bellt.
Er durchbohrt mich mit seinem feindseligen Blick, aber ich weiche ihm nicht aus. Der Lastwagenfahrer wischt sich durch sein blutiges Gesicht. Mit einem ungläubigem Ausdruck mustert er den Irren und dann mich.
„Ja, du bist darüber erhaben“, brülle ich zurück. Meine Stimme ist ebenso klar und schneidend wie seine. „Du bist darüber erhaben, weil deine Unfehlbarkeit nur auf unserer Dummheit, Faulheit und Vergesslichkeit beruht. Deine Stärke ist allein unsere Schwäche!“
Noch immer sehen wir uns in die Augen. Ich denke an die Kinder, die seinetwegen gestorben sind. Noch immer ist es still. Ein einzelnes Auto fährt unter der Brücke durch und hupt. „Schluss jetzt mit dem Theater!“, ruft einer der Polizisten. Welcher weiß ich nicht. „Ruhe, verdammt nochmal! Und Sie da am Geländer, ziehen Sie sofort den Hund nach oben!“
In dem Moment, als sich sein Blick aus meinem löst, sehe ich wie sich sein Arm in die Länge zieht und sein Körper mit einem grauenhaft knackendem Geräusch von brechenden Rippen über das Geländer gezogen wird. Oma wendet sich ab. Die Bullen stürmen zum Geländer und sehen wie ich gleichzeitig hinunter. Der Lastwagen, in dem sich der Hund verfangen hatte, war längst unter der Brücke durch.
Unter uns sitzt Herr Doktor Marnke mit ausgestreckten, grotesk verrenkten Beinen auf der Fahrbahn und sieht gestützt auf seinen verbliebenen Arm lachend zu uns herauf. Der andere fehlt. Der zweite Hund auch.
„Also bin ich unfehlbar“, brüllt er, „solange bis ihr mich vergessen habt! Ha ha ha ha …“
Der LKW, der hinter ihm heranrast, hat keine Chance mehr zu bremsen. Es knallt kurz, dann setzt das kreischende Geräusch der Bremsen ein. Als auch der Hänger schlingernd unter der Brücke verschwindet, liegen nur noch blutige Fetzen an der Stelle, von der aus wir noch gerade verhöhnt wurden.
Der jüngere der beiden Polizisten kotzt über das Geländer. Der Ältere dreht sich um und schlägt die Hände vor seinem Gesicht zusammen. Unter der Brücke halten die ersten Autos. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!!“, brüllt der Ältere und beugt sich über das Geländer. „Weg von der Unfallstelle! Weg da, verdammt nochmal!“ Er wiederholt die Prozedur fast wortwörtlich auf der anderen Brückenseite.
Der jüngere Polizist und ich stehen mit dem Rücken an das Geländer gelehnt und sehen uns an. „Was ist das da an Ihrem Mund?“, frage ich ihn. „Spinat?“ Mit einer gereizten Bewegung wischt er sich durchs Gesicht. Plötzlich weiten sich seine Augen. „Wo sind sie?!“
In der Hektik war keinem von uns aufgefallen, dass sich Oma und der Trucker davongemacht hatten.
*
Seit drei Stunden reden sie auf mich ein. Der Kaffee schmeckt grausam. Ich überlege, ob es in allen Polizeiwachen so riecht, wie in dieser.
„Ach, und noch was – sind Sie Mitglied in irgendeiner Sekte, oder so?“ Die Fragen gehen mir mittlerweile richtig auf die Nerven. „Nein, bin ich nicht! Ich bin Atheist. Mein einziges Vergehen war, über diese dämliche Brücke zur nächsten Tankstelle zu laufen. Kann ich jetzt endlich gehen!?“
Der Ältere der beiden reibt sich müde seine Augen und setzt die Brille wieder auf. „Ja, natürlich. Wir sind hier fertig. Wissen sie, es waren nur Ihre Worte da oben auf der Brücke. Ich glaube, Sie haben recht. Werde wohl aus der Kirche austreten. Irgendwann …“
Ich sehe ihn an. Er wartet, dass ich irgendetwas antworte. „Nein“, sage ich schließlich. „Sie sehen nicht aus, als ob Sie das tun werden.“
Als wir aus der Wache treten regnet es. Es ist dunkel und der Jüngere bringt mich endlich zur der Tankstelle, die ich eigentlich vor Stunden schon wieder verlassen haben wollte. Beide Polizisten haben mir ihre Namen gesagt; jetzt habe ich sie vergessen. Als wir ankommen, steige ich wortlos aus und gehe mit meinem Kanister zur Zapfsäule.
Der Tankwart ist nicht da. Ich bin froh darüber. Wenigstens keine blöden Sprüche. Als ich nach dem Bezahlen wieder auf den Hof trete, steht der Polizeiwagen noch immer an der selben Stelle.
Wütend gehe ich hin und reiße die Beifahrertür auf. „Was?! Was zum Teufel ist denn noch!?“ Obwohl ich ihn anbrülle, verzieht der Bulle keine Miene. „Hey, keine Panik. Draußen regnet es in Strömen. Soll ich Sie zu Ihrem Wagen fahren?“
Er meint es nur gut. Ich sehe auf meine Füße und muss lachen.
„Entschuldigung, so war das nicht gemeint. War eben ein bisschen viel heute.“ Ich sehe den dichten Regen im Neonlicht. „Wenn Sie das tun würden …“
„Klar. Steigen Sie ein!“ Dankbar lasse ich mich auf den Sitz fallen. „Und was das auf der Brücke betrifft“, sagt er, als wir auf die Hauptstraße abbiegen, „das war …“
„Bitte, können wir das Thema vergessen?“ falle ich ihm ins Wort. „Ich habe die Schnauze voll für heute!“
„… das war kein Spinat. Es war Broccoli. Ich hasse Broccoli. Etwas später hätte ich sowieso gekotzt.“ Er grinst mich an. Wir sind an meinem Wagen angekommen und ich steige aus.
Als ich fast zu Hause bin, sagt die Dame in meinem Autoradio, dass es noch immer einen Stau von acht Kilometern zwischen Burscheid und Wuppertal Ronsdorf gibt. Und eigentlich bin ich der einzige, der weiß warum.